Der neue Zeitgeist: Die globale Ordnung wiederherstellen
Mein Artikel wurde auch in der Sunday Times of Malta (ToM) sowie in der SWZ - (Südtiroler Wirtschaftszeitung) veröffentlicht. Der Link zum Artikel in der "ToM" bzw. "SWZ", die PDF/Printausgabe ist jeweils hier und hier zu finden.
Momentan leben wir auf dünnem Eis
Wegen der globalen Krisen und erst recht aufgrund Putins Angriffs-Krieg gegen die Ukraine leben wir aktuell auf dünnem Eis. Vieles steht infrage. Eine neue Epoche, ein neuer Zeitgeist zeichnet sich ab, denn das Fass ist übergelaufen. Maßgebliche Veränderungen sind die Folge. Große Herausforderungen mit Risiken, aber trotzdem viel positivem Potenzial.
Den Zeitgeist zu erkennen, ist elementar. Denn wer das Schwungrad des Zeitgeists – einen immer schon wesentlichen Aspekt der Mechanismen für nachhaltigen Erfolg – nützt, ist naturgemäß erfolgreicher. Denn was nicht mehr in die Zeit passt, ob an Denken, Verhalten, Vorgehen, Strukturen, Systemen, Technologien – es verliert an Akzeptanz, bekommt starken Gegenwind. Was aber in die Zeit passt, wird sich unaufhaltsam entwickeln und erfährt kräftigen Rückenwind.
Bei den ersten globalen Krisen unseres jungen 21. Jahrhunderts – von der Finanzkrise über die Klimakrise bis hin zur Covid-19-Pandemie – haben wir von weltumspannenden „Disruptionen“ gesprochen, von Störungen. Sie haben etablierte Strukturen und Ordnungen ins Wanken gebracht: die Finanz- und Wirtschaftssysteme, die globalisierten Lieferketten und damit die weltweite Güterversorgung. Die Globalisierung offenbarte ihre Zerbrechlichkeit und vor allem, wie schnell sie kippen kann und dass wir keinen Plan-B haben.
Doch nun haben wir es mit einem Konflikt zu tun, der das Bisherige in den Schatten stellt: Bei Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine haben wir es mit einem Angriff auf unsere aufgeklärte Welt zu tun. Wenn wir jetzt nicht richtig reagieren, herrscht bald das Recht des Stärkeren. Es zeichnet sich nichts Geringeres als ein globaler Kampf um die Vorherrschaft der politischen Systeme des 21. Jahrhunderts ab. Es braucht ein grundlegendes Umdenken beim Umgang mit Despoten und Autokratien.
Dabei haben uns schon länger andere Herausforderungen begleitet – doch wir haben daran nichts verändert, haben uns daran gewöhnt: etwa der exorbitante Anstieg der Verschuldung vieler Staaten, so auch in der Euro-Zone, und die von der EZB gigantisch gesteigerte Geldmenge, die – neben krisenbedingten Teuerungen – das eigentliche Kernproblem der Inflation ist.
Auch der Kapitalismus benötigt eine Reform, weil die Vorteile der Produktivitätssteigerung der vergangenen Jahrzehnte kaum bei den weniger wohlhabenden 60 Prozent der Bevölkerung ankommen. Das ist sozial eine tickende Zeitbombe.
Ein Konflikt, der den Status quo aus den Angeln hebt
Laut Aussagen von Altkanzlerin Angela Merkel im Juni 2022, hasst Putin das westliche Demokratie-Modell und will die EU zerstören. Putin selbst erklärte, er will, wie Peter der Große „russische Erde zurückholen“. Die Belange anderer Völker sind ihm gleich, er kennt keine Moral, für ihn heiligt der Zweck jegliche Mittel. Putin führt nicht nur einen völkerrechtswidrigen Angriffs-Krieg wider alle Zusagen Russlands von 1994 bezüglich der Souveränität der Ukraine aufgrund deren Verzicht auf Atomwaffen. Mit seinem Angriff hat Putin den Status quo der Geopolitik mit Gewalt aus den Angeln gehoben. Er, ein einzelner Mann, hat die Welt politisch um fast ein Jahrhundert zurückgeworfen.
Putins Krieg gegen die Ukraine ist ein Angriff gegen etablierte Ordnungen, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit in der Politik, Wirtschaft und internationale Diplomatie. Ebenso gegen die Menschenwürde, die Freiheit, das Kriegsrecht und erst recht gegen die Demokratie und gegen die moderne Zivilisation.
Spätestens jetzt dürfte den meisten klar sein: Ein Menschenleben zählt für Putin und sein Regime ebenso wenig wie die Souveränität von Staaten oder Verträge und Zusagen. Sie verdrehen Fakten, füttern das eigene Volk und die Welt mit verlogener Propaganda und schrecken auch vor Erpressung ganzer Staaten und Völker nicht zurück.
Der Kampf der politischen Systeme hat längst begonnen
Wenig überraschend halten ihm gerade jene Regierungen die Stange, die wie Putin wenig von Demokratie halten. Hier zeigt sich schon die Polarisierung, auf die der Konflikt hinausläuft: Entweder duldet eine Regierung Übergriffe, barbarischen Blutzoll und Vernichtung à la Putin oder eben nicht. Bei den rechtsstaatlichen Demokratien hat das Putin-Russland nun jedes Vertrauen unwiederbringlich verspielt.
Obendrein hat Präsident Putin durch das rasche Umdenken und Zusammenrücken der Allianz des Westens, der EU und G7-Staaten mit deren historisch beispiellosen Sanktionen gegen Russland, die Unterstützungen der Ukraine, den Beitritt der neutralen Länder Finnland und Schweden zur NATO sowie des EU-Kandidatenstatus der Ukraine und Moldawiens, in atemberaubender Geschwindigkeit das Gegenteil von dem erreicht, was er jemals erwartet und gewollt hat. Putin ist damit schon jetzt in eine Art Niederlage geraten, die in der Geschichte seinesgleichen sucht.
Nach Stand der Dinge könnte sich aber auch China ins Abseits manövrieren: China handelt nicht nur bei Umweltschutz und Menschenrechten fragwürdig, sondern auch im Umgang mit geistigem Eigentum, Fairness und Wettbewerbsbedingungen. Und trotz der Dramatik des Ukraine-Kriegs warnte der chinesische Verteidigungsminister Wei Fenghe im Juni 2022 seinen amerikanischen Amtskollegen Lloyd J. Austin: „Wenn jemand es wagt, Taiwan von China zu trennen, wird die chinesische Armee definitiv nicht zögern, einen Krieg zu beginnen, egal um welchen Preis“.
Gerade der hoch entwickelte Industriestaat Taiwan ist somit für den Frieden in der Welt ein weiterer Unsicherheitsfaktor, nicht zuletzt wegen seiner Dominanz in der weltweiten Chipproduktion.
Der Ministerpräsident des traditionell pazifistischen Japans, Fumio Kishida, verkündete im Juni 2022 eine außenpolitische Wende: Japan wolle nun doch seine Sicherheit stärken, weil „Ostasien die Ukraine von morgen“ sein könnte.
Als eine erste Positionskorrektur fassen die USA die Abkehr vom Gedanken des weltweiten Freihandels und neue Schwerpunkt-Allianzen ins Auge. US-Präsident Joe Biden präsentierte im Mai und Juni 2022 konkrete Konzepte, wie das „Indo-pacific economic framework“ (IPEF) und die „Partners in the Blue Pacific (PBP). Mit dabei: Länder wie Brunei, Japan, Australien, Südkorea, Japan, Neuseeland und Großbritannien. Zudem arbeitet die USA an der Formierung einer demokratischen Allianz in Gesamtamerika gegen die autokratische Bedrohung.
Wehrhafte Demokratie – und wehrhafte Ordnung
Über allem steht plötzlich nicht mehr nur die große Frage nach der Wiederbelebung der wehrhaften Demokratie, sondern es ist an der Zeit, einen Schritt weiterzudenken und auch die Frage der wehrhaften Ordnung ins Zentrum zu rücken. Niemals mehr wollen die Gestalter der freien Welt und ihres Wohlstands noch einmal hilflos dabei zusehen, wenn ein einzelner Diktator die Ordnung willkürlich aus den Angeln hebt.
Putin führt den Westen bisher am Gängelband, sei es über Energie oder Nahrungsmittel und setzt auf Angst. Wegen seiner ständigen Drohungen mit der Atombombe wehrt sich der Westen nicht rigoros genug. Dabei weiß Putin, dass ein Atomschlag eine unverzügliche atomare Gegenreaktion auf sein Land auslöst und ihn international endgültig isoliert.
Denn alle Staatsführer, auch in China und Indien, wissen: Damit das eigene Wirtschafts- und ihr Machtgefüge nicht kollabiert, benötigen sie ein funktionierendes Amerika, eine funktionierende EU, eine halbwegs funktionierende Weltwirtschaft, einen halbwegs funktionierenden Handel samt Börsen. Insofern bleibt ein Atomkrieg weiterhin, wie schon im Kalten Krieg, höchst unwahrscheinlich, aber die Drohung damit funktioniert – leider.
Deglobalisierung: Dabei ist nur, wer sich an die Regeln hält
Der neue Zeitgeist wird zudem befördern, auch wirtschaftlich riskante Abhängigkeiten zügig zu entschärfen. Die Konsequenz: ein massiver Trend zur Deglobalisierung.
Die Rückholaktion von Fabriken und ganzer Industriesegmente aus China in benachbarte Länder oder die Heimat läuft bereits. Neben diesem „Nah- und Re-Shoring“ geht es um „Friend-Shoring“ und Wertepartnerschaften, also den Aufbau strategischen Handels mit Ländern, die als freundlich und verlässlich gelten. Und das ist erst der Anfang dieses Umbruchs.
Paradoxerweise beschleunigt China selbst die Deglobalisierung. Denn infolge der Sanktionen und Strafzölle der USA unter US-Präsident Trump beschloss China im Oktober 2020 als eine Schlüsselkomponente des 14. Fünfjahresplans (2021-2025), eine Kehrtwende zur vier Jahrzehnte lang vorherrschten "Reform- und Öffnungsstrategie": Nun will man rasch wirtschaftlich autark werden. Die Lieferketten-Probleme und Russland-Sanktionen, eventuell sogar die Sorge bezüglich Schadenersatzforderungen auf breiter Front mangels frühzeitiger Transparenz in Sachen Covid-19 Pandemie, werden die Chinesen bestärken, dieses Vorhaben beschleunigt umzusetzen.
Natürlich wird eine Deglobalisierung die Inflation noch befeuern, da Produktivität und Preis künftig keine vorherrschenden Kriterien mehr sind. Bei der Wahl und Organisation von Beschaffungsquellen, Standorten und Lieferketten zählen künftig ganz klar Überlegungen der Versorgungssicherheit, der Nachhaltigkeit sowie der geopolitischen Gesinnung.
Auch wenn sich manche Konzerne auf zwei Lieferkettenkreisläufe vorbereiten und Chinas Präsident Xi Jinping ebenso davon spricht – einen für Chinas nationalen Wirtschaftskreislauf und einen für die internationale Welt –, so werden sich moderne, aufgeschlossene Unternehmen zu kultivierten Standards bekennen müssen, um international nicht auf der Strecke zu bleiben.
Ein neuer Zeitgeist bedeutet also: Die Macher und Entscheider der freien Welt müssen sich und ihre Nationen gegen globale Disruptionen und Aggressoren wirksam absichern. Totalitäre Systeme ändert man leider nicht durch Diplomatie oder das Prinzip „Wandel durch Handel“ bzw. Hoffnung auf Einsicht und Vernunft.
Das „Nie wieder“ von 1945 ist jetzt auch ein „Nie wieder“ von 2022. Es braucht neue, wirksame Spielregeln, um die Ordnung wiederherzustellen und abzusichern. Das gilt im Hinblick auf sämtliche globalen Krisen, also auch Covid-19, Klima, Lieferketten, den längst hochproblematischen Krieg im Netz.
Beschlüsse des G7-Gipfels im Juni 2022 in Elmau standen bereits unter diesen Vorzeichen, wie u. a. die Stabilisierung der Weltwirtschaft und Energieversorgung, gleicher Wettbewerbsbedingungen, die Stärkung der Menschenrechte on- und offline, Bekämpfung von Desinformation, die Mobilisierung von 600 Milliarden US-Dollar als Verstärkung der Zusammenarbeit für eine gerechte Energiewende mit Indien, Indonesien, Vietnam und Senegal.
Eine neue Weltordnung
Der neue Zeitgeist zielt mit seinem „Nie wieder“ auf eine robuste Ordnung ab, sowie auf die Wehrhaftigkeit der Ordnung – wo nötig auch rechtsstaatlich und militärisch – und dies möglichst in einem weltweiten Modus.
Letztlich bedeutet dies, anzuerkennen, dass es die Idee einer Weltgemeinschaft gibt. Das ist bereits ein Stück über die Herausforderungen des Klimawandels vorbereitet worden, denn inzwischen wurde weitgehend verstanden, dass der Klimawandel nicht an einer Staatsgrenze haltmacht.
Ein nächster logischer Schritt wäre, sich darauf zu verständigen, wer ein gemeinschaftsschädigendes Verhalten an den Tag legt, von Krieg bis hin zur Abholzung des global so wichtigen Regenwaldes, der hat entsprechende Konsequenzen zu tragen.
Schlussendlich dürfte dies, auch wenn es noch ein sehr weiter Weg und ein großes Ringen darum dorthin ist, zu einer Art Weltgerichtshof führen. Natürlich darf sich dem nicht jeder nach Lust und Laune entziehen können, auch Vetos haben dort nichts mehr verloren. So ein Weltgerichtshof muss nach bestimmten Maßgaben definieren können, was ein gemeinschaftsschädigendes Verhalten ist. Und bei Verfehlungen strafbewehrte Maßnahmen verhängen sowie im Interesse der Weltgemeinschaft die Ordnungswiederherstellung und den Ordnungserhalt mit wirksamen Mitteln und Strukturen durchsetzen können.
Die Frage an alle Völker: In welcher Ordnung wollen sie leben?
Der neue Zeitgeist stellt letztlich allen Völkern die große Frage: In welcher Staatsform wollen sie leben? Ist es die Ordnung des Stärkeren und des Mächtigen? Oder soll die Wirtschaft und Finanzwelt die Hoheit erlangen? Mit oder ohne Orientierung an Menschenwürde und Menschenrechten und modernen Werten?
Die Demokratie ist nicht einfach nur ein schönes Staatssystem, sondern eine Staatsform, die dem Menschenwesen eben am besten entspricht, vorausgesetzt, sie wird gut gehandhabt. Zur Wahrung von Freiheit, Chancengleichheit und Menschenrechten gibt es keine Alternative zur Demokratie.
Ja, es ist leicht, von Europa aus zu sagen: Das russische oder chinesische Volk hat die Wahl. Sicher: diese Regime haben das Volk weitgehend von sachlicher Information abgeschnitten. China erklärte jüngst auch noch den Zugang via Satelliten zum Internet zur staatlichen Bedrohung. Klar, weil objektives Wissen deren Macht gefährden könnte.
Dennoch, damit Despoten und Autokratien menschenverachtend agieren können, braucht es ein Volk, das sich manipulieren und unterdrücken lässt. Gerade weil sich Lügenpropaganda zwangsläufig immer in logische Widersprüche verstrickt, ist es verwunderlich, dass man dies nicht intensiver hinterfragt und eine Mehrheit diese Art regiert zu werden augenscheinlich in Ordnung findet oder nicht zumindest mehr passiven Widerstand leistet.
Mut zur Demokratie und Ordnung
Der neue Zeitgeist weist klar in eine Richtung: Neben einer wehrhaften Demokratie braucht es auch eine wehrhafte Ordnung. Übeltäter sind rigoros von der modernen, demokratischen Weltgemeinschaft auszuschließen. Riskante Abhängigkeiten müssen zügig reduziert werden, es braucht für alles einen Plan-B und robustere Systeme und Strukturen.
Wir sollten mit Mut und Durchhaltevermögen diesen Weg, den uns der neue Zeitgeist bietet, konsequent gehen. Denn inzwischen sollte allen klar sein: weitere faule Kompromisse führen uns nur an den nächsten Abgrund.
So herausfordernd die Zeiten momentan auch sind, ein tatsächliches „Nie wieder“ bietet auch enorme Chancen für unsere Welt. Vor allem mehr Stabilität und Frieden, aber auch Freiheit und Wohlstand für weitere Abermillionen von Mitmenschen und die Absicherung unserer eigenen Errungenschaften. Der neue Zeitgeist erfordert jedoch auch ein Umdenken bei Business-Strategien.