Interview für Confare - Digitalisierung - Quo vadis?
Mein Interview wurde auch in der Times of Malta (ToM) veröffentlicht. Der Link zum Artikel in der "ToM". Zum Nachlesen auf der Confare Webseite: Teil 1, Teil 2, Teil 3 und Teil 4
Im Interview mit Confare-Gründer Michael Ghezzo, spricht Reinhold M. Karner, FRSA (alias RMK) über wirtschaftliche Entwicklungen und Krisen und welche Chancen und Risiken sie für IT- und Digitalisierungsentscheider in Unternehmen bergen.
Confare ist einer der führenden Influencer der digitalen Szene in den D-A-CH-Ländern (Deutschland, Österreich und Schweiz) und Organisator und Gastgeber der CIO Awards und der IDE Awards. Deren Blog ist branchenübergreifend in den Top 100 gelistet.
Die Themen:
- Gegenwärtige Herausforderungen
- Ist der Höhenflug der vergangenen Jahre vorbei?
- Metaverse, Krypto, NFT und Blockchain
- Mit welchen Megatrends sollten sich Entscheider befassen? (Digitalisierung & KI)
- Der Zugang zu Internet und Technologie ist weltweit nicht gerecht verteilt
- Was können CIOs und CDOs für eine bessere Zukunft beitragen?
Confare: Als DER·ERFOLG·REICH·MACHER hat Reinhold M. Karner (alias RMK) eine ganze Menge Hüte auf. Er ist Erfolgscoach, Unternehmensphilosoph, Unternehmensberater und Vordenker, Dozent an Hochschulen und Universitäten für Entrepreneurship, strategisches Management, ERP, KI und Digitalisierung, populärwissenschaftlicher Autor, Aufsichtsrat, Beirat sowie Ambassador für Österreich und Malta und Fellow des Think-Tanks RSA (Royal Society for Arts, Manufactures and Commerce, London, gegr. 1754). Was das ausdrückt? Reinhold hat eine bewegte Vergangenheit als IT-Pionier, Unternehmer und Denker. Außerdem ist Reinhold ein gern gesehener Gast auf den Bühnen der Confare CIOSUMMITS.
„Für mich ist Reinhold jemand, der wie kein Zweiter die Fähigkeit hat die komplexen Zusammenhänge aktueller Trends, technologischer und gesellschaftlicher Entwicklungen und den unternehmerischen Möglichkeiten aufzuzeigen.“, meint Confare Gründer Michael Ghezzo. In einem langen Gespräch haben Reinhold und Michael über die aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen und Krisen gesprochen und welche Chancen und Gefahren diese für IT- und Digitalisierung-Entscheider in den Unternehmen bereithalten. Dabei ist eine Reihe von Beiträgen entstanden, die wir Ihnen in den nächsten Wochen im Blog präsentieren. Teil 1 befasst sich mit dem Krisenhaften unserer Zeit und was das für unsere Gesellschaft und die Wirtschaft bedeutet.
Confare: Gegenwärtig gibt es ganz viele Themen, die unsere Gesellschaft challengen. Wie fit sind unsere Gesellschaften für die Anforderungen der Zukunft?
RMK: Derzeit leben wir auf sehr dünnem Eis, keine Frage. Dies nicht nur wegen der multiplen globalen Krisen und des russischen Angriffs-Kriegs auf die Ukraine. Vieles steht infrage. Es zeichnet sich sogar ein neuer Zeitgeist ab. Maßgebliche Umbrüche sind die Folge, die Risiken sind erheblich, aber das Chancen-Potenzial ebenso. Ich habe viel Zutrauen in unsere Gesellschaft, dass wir auch diese Unmenge an nunmehrigen Herausforderungen meistern werden. Der Mensch ist grundsätzlich resilient und sehr kreativ. Auch wenn die Menschheit und die Politik seit jeher bei den großen Dingen erst etwas verändern, wenn der Druck massiv steigt, der Hut brennt. Das ist nun der Fall.
Aber meine Antwort auf Deine Frage ist deutlich: Wir sind nicht mehr so fit, wie wir sein sollten. Wir sind träge geworden, zu bequem, zu saturiert, ziemlich „übergewichtig“, untrainiert und verwöhnt. Wir hatten schon zuvor viele Wohlstandskrankheiten, aber die globalen Krisen und ihre Folgen haben nun die Gefahr für einen Herzinfarkt auf der Risiko-Skala weit nach oben katapultiert. Der ziemlich außer Rand und Band geratene Bluthochdruck, Zuckerspiegel u. v. m. unserer Lage lässt sich an der nun nach Jahrzehnten wieder ausufernd hohen Inflation, der gigantischen neuen Staatsverschuldung und der horrenden Explosion der Energiepreise ablesen.
Spätestens bei solch einem Status quo stellt einem sein Vertrauensarzt, dessen Ermahnung zu mehr Fitness, gesünderer Lebensweise und Bescheidenheit seit Jahren ignoriert wurde, nun mit nachdrücklicher Stimme und erhobenem Zeigefinger erneut die Frage: Will man denn endlich den harten Fakten ins Auge blicken, sich aufraffen und zügig etwas ändern? Sich ein Fitnessprogramm verordnen, Verzicht üben und dieses auch diszipliniert umsetzt oder einfach so weitermachen und hoffen, dass es schon gut gehen wird?
Schon die Liste der Herausforderungen unabhängig vom Krieg in Europa ist enorm. Ob unser exzessiver, rücksichtsloser Verbrauch an Ressourcen (Erdüberlastungstag), der Klimawandel oder die zahlreichen weiteren Themen auf vielen Ebenen – in der Wirtschaft, Globalisierung, der Demokratie und Politik, des Finanz- und Sozialsystems usw.
Es ist klar, dass sich sehr vieles - ob wir wollen oder nicht - ändert, wir uns anpassen müssen und vieles zum Besseren ändern sollten. Alles andere ist eine Illusion. Die Lage ist komplex. Interessanterweise haben wir uns, bei genauer Analyse, einiges selbst eingebrockt.
Greifen wir nur das Thema der Inflation heraus. Die letzte große Inflation wurde durch die beiden Ölkrisen von 1973 und 1978 ausgelöst. Nach der damaligen Inflation herrschte diesbezüglich über 30 Jahre weitgehend Ruhe, sahen wir ein moderates Inflationsniveau. Nun ist die Inflationsrate so hoch wie seit 70 Jahren nicht mehr. Aber das jetzige Inflations-Problem ist nicht so monokausal wie in den 1970ern.
Grund dafür sind nicht nur der Arbeitskräfte- und Rohstoffmangel, der Ukraine-Krieg, die anderen aktuellen globalen Krisen, sondern, dass in der Eurozone die EZB die Geldmenge, den Geldbestand der Eurozonen-Volkswirtschaft, seit 2010 aufgrund der Finanzkrise von 2007 bis 2010 von rd. 4 Billionen (2006) auf über 11 Billionen Euro (2021) fast verdreifacht und die Bilanzsumme von rd. 1,5 Billionen Euro auf ungefähr 8,7 Billionen Euro vervielfacht hat, während das BIP in dieser Zeit nur um etwas über 30 % angestiegen ist. Die EZB hat die früheren Krisen einfach mit einer Vogel-Strauß-Politik versucht, mittels einer größeren Geldmenge auszusitzen, zu überdecken und damit die hoch verschuldeten Euro-Länder zu verschonen. Insofern war es ein kardinaler Fehler, nur eine Euro-Zone einzuführen, denn die wirtschaftliche Performance aller EU-Mitgliedsstaaten wird niemals auf ähnlichem Niveau liegen.
Dass diese Blase, mit aus dem Nichts geschöpften «Fiatgeld», eines Tages platzen würde, uns auf den Kopf fällt, war lange klar.
Wirtschaftswissenschaftlicher, wie Prof. Dr. Dr. Hans-Werner Sinn vom ifo-Institut in München, warnten davor seit Jahren laut und deutlich. Denn auf Dauer bleibt es nicht ohne Folgen, wenn eine zu große Geldmenge, ein Überangebot auf eine deutlich kleinere Warenmenge trifft. Es bedarf nur einiger signifikanter Ereignisse, um eine Kettenreaktion auszulösen. Genau dies geschah 2021.
Zu den langfristigen Problemen mit den Nachwirkungen der Finanzkrise kamen die von US-Präsident Trump initiierten Handelskonflikte, insbesondere zwischen den USA und China, und dann traten noch zwei «schwarze Schwäne» - unwahrscheinliche Ereignisse - auf die Weltbühne, die keiner voraussehen konnte: die Covid-19-Krise und die damit einhergehende weitere Expansion der Geldmenge und Wladimir Putins Ukraine-Überfallskrieg.
Diese beiden Geschehnisse haben unsere strategisch gefährliche Abhängigkeit von anderen Ländern erst so richtig offenbart. In den ohnehin schon angespannten Lieferketten kam es zu noch mehr an erheblichen Disruptionen und die Energie-Ressourcen (Gas zur Stromproduktion) wurden knapp und sehr kostspielig.
Die Veränderungen und Umbrüche infolge all der globalen Krisen werden insgesamt enorm sein. Wir werden eine deutliche De-Globalisierung sehen, vieles an Produktionen wird erneut an andere Standorte verlagert oder zurückgeholt, regionalisiert. Investitionen in die grüne Energiewende, aber auch in die militärische Verteidigungsfähigkeit schnellen in die Höhe. Die Cluster an Wirtschaftszonen in der Welt werden sich neu sortieren, anders aufstellen und organisieren. Freund und Partner gegen Erzkonkurrenten, Nichtfreund, Feind werden hierbei eine wesentliche Rolle spielen.
Es ist für mich nachvollziehbar, wenn renommierte Experten wie Prof. Dr. Hermann Simon nun davon ausgehen, dass uns eine hohe Inflation wahrscheinlich noch etwa 10 Jahre lang begleiten dürfte, so wie es in den 1970er-Jahren bereits der Fall war.
Dabei ist schon die „normale, moderate“ Inflation in ihren Auswirkungen nicht zu unterschätzen. So haben unsere Währungen in den vergangenen 30 Jahren, bis 2021 (der Euro wurde 1999 eingeführt) etwa 40 % ihrer Kaufkraft verloren. Der US-Dollar hat, seit US-Präsident Richard Nixon die Spielregeln der Weltwirtschaftsordnung der Nachkriegszeit 1971 änderte, um den Vietnamkrieg zu finanzieren, indem er die Goldwertkonvertibilität (den Goldstandard) aufkündigte, damit den „Nixon-Schock“ auslöste, bis Ende 2021 immense 84,9 % seiner Kaufkraft verloren.
Dabei wäre eine Inflation nicht unvermeidlich. Denn vor der Abschaffung des Goldstandards waren die Regierungen zur Disziplin im Umgang mit dem Geld gezwungen, und daher gab es in den Jahren von 1680 bis 1930 zwar ein ständiges Auf und Ab zwischen steigenden und fallenden Preisen (Inflation/Deflation), aber das glich sich über die Jahre aus, und so lag die Inflation damals bei durchschnittlich null Prozent.
Insofern sollte uns heute klar sein, dass die nunmehrige Gesamtlage auch unseren Wohlstand großflächig merklich abschmelzen lassen wird.
Confare: Während wir in den letzten Jahren viel über Transformation, Innovation und Fortschritt gesprochen haben, sind heute Krise, Rezession und Konflikte stark in die öffentliche Wahrnehmung gerutscht. Ist der Höhenflug vorbei?
RMK: Nun, keiner, gar keiner, kennt die Zukunft. Wie Sir Isaac Newton schon im 17. Jahrhundert feststellte, funktioniert logisches Analysieren, Denken und Berechnen mit komplexen dynamischen Systemen, also Dingen, die sich im Laufe der Zeit ständig verändern, nicht. Ganz einfach deshalb, weil man das Funktionieren von etwas Lebendigem nicht allein mit der Ursache-Wirkungs-Logik erklären kann. Dasselbe gilt auch für die gehypten Erwartungen an die Künstliche Intelligenz (KI). Wobei bis heute die mathematische Abhandlung von Ursache-Wirkung problematisch ist, siehe „The Book of Why“ von Prof. Judea Pearl.
Ich kann daher nur mutmaßen. Ich meine, die kontinuierliche technologische Entwicklung wird sich kaum einbremsen, auch heißt es nicht umsonst „Not macht erfinderisch“. Die wirtschaftliche Entfaltung hingegen wird wohl eine gewisse Zeit lang, real, eher auf einer geringeren Flughöhe fortgesetzt. Hoffen wir, dass die Lage mit Taiwan nicht auch noch eskaliert, denn dann würde die Weltwirtschaft wegen der massiven Abhängigkeit von der dortigen Halbleiterindustrie einen Sturzflug antreten. Immerhin kommen zwei Drittel aller weltweit benötigten Mikrochips aus dem Inselstaat.
Das Gute an der momentanen Situation ist möglicherweise, dass wir so wieder mehr Bodenhaftung bekommen. Denn gerade Themen wie Innovation, Start-ups, Globalisierung oder andere sogenannte Fortschritte waren auch mit erheblichem PR-Getöse oder eine Art Modeerscheinung durchwachsen, wovon das meiste die Nagelprobe letztlich nicht bestand.
Laut dem berühmten Ökonomen Peter F. Drucker (1909-2005), dem österreichisch-amerikanischen Begründer des modernen Managements, haben Unternehmen nur zwei wichtige Funktionen, nämlich Marketing und Innovation, denn nur diese führen zu Ergebnissen. Alles andere sind Kosten. Es stimmt, die Schaffung von Kundennutzen erfolgt hauptsächlich durch Innovation, aber eine gewisse Nüchternheit ist in der Praxis dann doch angebracht. Denn Studien (z. B. von Simon Kucher & Partners) zeigen, dass etwa 70 % der Innovationen bei der Steigerung des Kundennutzens schlicht enttäuschend sind. Dieser Prozentsatz ist paradoxerweise bei digitalen und Hightech Innovationen sogar noch viel höher.
Und bei Neugründungen und Start-ups, letztere seien lt. Definition nur solche, die innovativ arbeiten, signifikantes Wachstum aufweisen und jünger als 10 Jahre sind, sehen wir, dass laut Eurostat Bericht „Key figures on European business - 2022 edition“ nur 45 % das 5. Jahr überleben. Bis dahin also mehr als die Hälfte wegsterben. Die meisten Start-ups, insbesondere im Hightech, Deep-Tech und Digital-Sektor überleben keine 3 Jahre. Und das 10. Jahr überleben insgesamt nur weniger als 20 % aller ehemaligen Jungfirmen. Das zeigt, hier klafft eine riesige Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit in der öffentlichen Wahrnehmung, da läuft zu vieles von vorneherein falsch. Aber um das alles näher auszuführen, wozu ich schon in meinen Keynotes und Vorträgen einige Zeit benötige, bitte ich um Geduld bis in voraussichtlich Herbst 2023, dann wird es von mir ein Buch dazu sowohl mit der Analyse als auch Lösungen geben.
Die Krux ist ohnehin: Die Umwelt schonen zu wollen und gleichzeitig auf grenzenloses Wachstum zu setzen, schließt sich schlicht und einfach aus, das funktioniert nicht.
Die zentrale Frage, die wir uns hingegen alle stellen müssen, ist: Was benötigen wir wirklich?
Unser jetziges Wirtschaftssystem ist auf grenzenlosen Fortschritt ausgerichtet, auf permanentes Wachstum – das ist das Heilsversprechen. Es hat viel mit dem Keynesianismus und seinen Irrtümern zu tun. Dass es so nicht weitergehen kann, wird zunehmend vielerorts klar.
Unsere Zeiten erscheinen als etwas speziell und sehr turbulent. Ja, sie haben ihre Schwierigkeiten, sie haben ihre Probleme, aber sie haben auch ihre Lösungen. Aber es ist nicht das erste Mal in der Weltgeschichte, dass es so speziell und turbulent ist. Und eines ist sicher: Nach jedem Tag kommt ein neuer Tag und der bringt möglicherweise neue Probleme, aber jedenfalls auch neue Chancen und Lösungsmöglichkeiten.
Confare: Mit Metaverse, Krypto, NFT oder Blockchain sind momentan eine ganze Menge neuer Hype Themen auf dem Horizont erschienen? Welche Empfehlungen hast Du, um die Tragweite solcher Entwicklungen richtig einzuschätzen?
RMK: Beginnen wir bei den derzeit greifbaren Dingen, wo wir keine Glaskugel benötigen. Es ist schon der Sprachgebrauch pervertiert, wenn wir z. B. von VR, also virtueller Realität, sprechen. So etwas gibt es de facto nicht. Denn entweder ist etwas virtuell oder real. Man kann nicht ein bisschen schwanger sein. Hier gibt es nur eine binäre Antwort, 0 oder 1, virtuell oder real.
Dass die Kryptowährungen samt der ganzen Krypto-Szene seit einiger Zeit in argen Turbulenzen sind, ist allseits offenbart und sollte uns nicht überraschen. Diese Anwendungen und ihre digital verbrieften Werte sind eben nicht real, sondern nur virtuell. Sie wurden der Allgemeinheit als die neue Alchemie mit modernen Mitteln verkauft. Daran haben viele Abermilliarden verdient, andere ebenso viel verloren. „Krypto ist das neue Wetten“, schrieb Martin Hock in der FAZ. Damit hat er recht, das Element der Spekulation ist hierin bislang überproportional inhärent.
Rana Foroohar schrieb im November 2022 in einem Artikel in der Financial Times: „Neuer Vermögenswert, altes Problem. - Wenn uns der Konkurs von FTX und die anschließende Kernschmelze aller Krypto-Dinge etwas gezeigt haben, dann, dass es auch dieses Mal immer noch nicht anders ist, wenn es um den Finanzsektor und das Risiko geht. Das Produkt, das im Herzen des aktuellen Markteinbruchs steht, mag Hightech sein, aber die Details, wie wir hierhergekommen sind, spiegeln viele Aspekte der Finanzkrise von 2008 und andere Phasen der Finanzspekulation wie die Dotcom-Blase oder sogar den Vorlauf zum Marktzusammenbruch von 1929 wider.“
Wir sehen, an sich lernt der Mensch nicht wirklich konsequent. Gier ist immer gefährlich. Das sollten wir spätestens seit dem Platzen der ersten, gut dokumentierten Spekulationsblase der Wirtschaftsgeschichte, der Tulpenmanie (1637) in den Niederlanden, wissen.
Zudem wurde gerade mit Krypto-Währungen immens viel betrogen, Geld gewaschen, illegale Geschäfte abgewickelt, eben weil das alles eine völlig undurchsichtige Blackbox ist. Deshalb auch der vorangegangene Boom, denn das zog viele aus der Schattenwelt an.
Aber auch die bisherigen illegalen Geldverschiebungen und Diebstähle in Milliardenhöhe waren atemberaubend. Offenbar sind dafür Kryptowährungen – trotz oder erst recht wegen der Blockchain - nicht nur anfälliger, jedenfalls nicht sicherer, sondern noch viel lohnender. Denn solch ein Raubzug kann bequem von einer beliebigen Location, einem Wohnzimmer oder Homeoffice, aus der Welt geschehen und einen großen Transportwagen oder Lagerraum für das gestohlene Diebesgut braucht es auch nicht.
Diese ganze parallele Finanzwelt ist viel zu wenig überwacht und reguliert, auch, weil sie im digitalen Raum grenzenlos global agiert und daher nur schwer zu fassen ist.
Als ich im Oktober 2018 mit Changpeng Zhao (Spitzname „CZ“), dem Gründer und CEO von Binance (gegr. 2017), der mit Abstand größten Kryptowährungsbörse der Welt, weshalb CZ zwischendurch sogar als vermögendster Mensch der Welt galt, ein privates Dinner auf Malta im Freundeskreis hatte, schwärmte er noch von seiner Vision eines liberalen, unregulierten Finanzsystems, vorbei an den herrschenden Eliten, dem Establishment. Nach der FTX-Pleite drängte er selbst jedoch im November 2022 auf dem G-20-Gipfel auf Bali in Indonesien die führenden Politiker zu strengen Regulierungen, Vorschriften und Schutzmaßnahmen.
Diese Szene ist nun doch – trotz virtuellem Geschehen - in der Realität angekommen. Dieser Wandel vom Zocken zu einer seriösen Berechenbarkeit und die Schaffung von Vertrauen wird noch viel Anstrengungen und Zeit brauchen, aber es scheint, der Weg in die richtige Richtung ist - notgedrungen - eingeschlagen.
Wenn große Zentralbanken wie die EZB tatsächlich unsere Währung auch digital verfügbar machen, so wird diese vermutlich den gleichen Regeln und Kontrollen wie unser bisheriges Geldsystem unterliegen. Das wird massiv helfen. Trotzdem kann man nur hoffen, dass das Bar- und Giro-Geld nicht abgeschafft wird, denn das hätte langfristig fatale Folgen, das wird meiner Ansicht nach weithin unterschätzt.
Zur Blockchain ist zu sagen, dass der weltführende IT-Marktforscher Gartner Inc. schon von Anfang an mit der Einschätzung richtig lag, dass dies eine Basis-Technologie und keine Anwendung ist, dies alles daher noch viel Zeit erfordern werde, bis eine solche standardisiert, robust, energieeffizient, sicher und vertrauenswürdig allgemein verfügbar ist.
Der Vater des World Wide Web, Sir Tim Berners-Lee, bewertete im November 2022 auf dem Web Summit in Lissabon die dezentrale Datenbanktechnik Blockchain nicht als eine geeignete Lösung für den Aufbau der nächsten Generation des Internets. "Ignorieren Sie den Web3-Kram", riet der Physiker und Informatiker und zeigte sich von den Zukunftsszenarien der Krypto-Visionäre gar nicht überzeugt. Er bezeichnete es sogar als "echte Schande, dass die Ethereum-Leute die bereits existierende Bezeichnung Web3 für viele die Dinge übernommen hätten, die sie mit Blockchain machen, wobei in Wirklichkeit diese Form des Web3 überhaupt nicht das Web sei.“
Auf fast jeder Website von Web3-Projekten findet man den Begriff „Dezentralisierung". Das Web3 selbst wird gerne als das »dezentrale Web« bezeichnet, nur ist es damit nicht weit her. Der bekannte Hacker Moxie Marlinspike kam längst zum Schluss, „all die Versprechen von Dezentralität sind nur PR, denn die bekannten Produkte hängen alle von einer Handvoll zentraler Dienste ab“.
Die Leuchttürme des Web3 selbst halten sich nicht an zentrale Werte und Versprechen, außerdem stellt sich die Frage, welchen praktischen Wert eine abstrakte Dezentralisierung denn hat, denn das WWW ist auch technisch dezentralisiert, trotzdem sehen wir Monopolbildung.
Bei der Auseinandersetzung mit dem Web3 kommt man immer wieder ins Staunen, so z. B., wenn man das System durchgeht und feststellt, dass Smart Contracts, nachdem sie deployed wurden, nur unter großen Kosten und bestimmten Bedingungen gepatcht werden. Allerdings können alle Angreifer den Code lesen. Oder man wundert sich, dass NFTs, die uns als die Zukunft digitalen Besitzes angepriesen werden, einem weder irgendwelches Eigentum oder Lizenzrechte an etwas geben, noch garantieren, dass sie sich tatsächlich als einzige auf ein bestimmtes Objekt beziehen.
Auch wenn die Web3-Evangelisten nicht müde werden, die Trommel vom Wunder des nächsten Webs zu rühren, so läuft es doch ähnlich wie schon vorher bei der Blockchain-Debatte, dass man immer nur im Konjunktiv spricht, nichts ist verbindlich, nichts ist fix. Also sollte man die Sache besser doch erst einmal noch mit Argusaugen verfolgen.
Bedenkt man nun noch, auch wenn inzwischen Ethereum auf einen stromsparenden Betrieb umgestellt hat, dass, wie Studien zeigen, durch die digitale Währung Bitcoin größere Klimaschäden verursacht werden als durch die weltweite Produktion von Rindfleisch oder aller SUVs. So wird für die Transaktionen mit Bitcoins im Jahr mehr Strom verbraucht wird als in ganz Österreich oder Portugal. Dies zeigt, bis wir eine standardisierte, akzeptable Basis-Technologie für die Blockchains in ihrem vollen Ausmaß etabliert haben, wird es noch viele Jahre dauern. Alles dazwischen werden Interimslösungen sein.
Übrigens entfallen auf alle Digitalisierung (Hardware, Infrastruktur) bereits rund 8 % des weltweiten Stromverbrauchs. Es wird erwartet, dass dieser Anteil bis 2030 um 50 bis 80 % steigen wird. Das liegt nicht nur an immer mehr Usern und Anwendungen im Netz, sondern auch daran, dass selbst die KI immens energiehungrig ist. So schätzt Hugging Face, dass das Training eines sogenannten Large Language Models (LLMs) mindestens 25 Tonnen an CO2-Emissionen produziert. Diese Zahl verdopple sich sogar, wenn man zusätzlich jene Emissionen berücksichtigt, welche für die Herstellung der riesigen Computerausstattung, den Aufbau der Computerinfrastruktur und den anschließenden Regelbetrieb hinzurechnet. Übersetzt betrachtet heißt dies, dass die 50 Tonnen CO2-Emissionen für ein solches Modell etwa 60 Flügen zwischen London und New York entsprechen.
Dennoch, später, wenn die Blockchain Basis-Technologie ausgebacken ist, dürfte deren Verbreitung, Integration und dessen Geschäftsvolumen damit gigantisch sein. Trotzdem würde ich dort, wo einem die heutigen Blockchain-Möglichkeiten echte Vorteile, einen soliden Nutzen bringen und man dabei selbst im „Driver-Seat“ sitzt, also die technologische und anwendungstechnische Kontrolle darüber hat, mit „Low-hanging Fruits“-Anwendungen, auch mit einfachen Smart-Contracts oder non-speculative NFTs schon arbeiten und Erfahrungen sammeln, aber im Wissen, dass dies so nicht der Weisheit letzter Schluss sein wird.
Zum Metaverse bzw. Metaversum: Damit bin ich vorsichtig, denn noch sehe ich dies als eher eine nächste Blendgranate, einen nächsten Hype, eine Art technologisches Greenwashing an. Auch sehe ich die Änderung des Firmennamens von Facebook „deswegen“ in Meta mehr als eine Flucht nach vorn, um von den vielen, systemischen Herausforderungen, die sich ja in deren Niedergang des Börsenkurses und nunmehrigen Kündigungswelle widerspiegelte, abzulenken. Die Namenswahl erscheint mir zudem als überhastet getroffen, denn so wird sich der Konzern beim nächsten großen Technologie-Change erneut umtaufen müssen, das schwächt eine Marke.
Wir sollten uns bei all diesen Hypes, ob bezüglich Krypto, KI, Metaverse oder was auch immer, den meiner Erfahrung nach meist zutreffenden Hype-Cycle von Gartner Inc. vor Augen halten. Dieser wurde 1995 von deren Analystin Jackie Fenn vorgestellt und stimmt noch immer.
Die Wellen dieses Hype-Zyklus für Technologien führt über seine Zeitachse vom „technologischen Auslöser“ rasant steil bergauf zum „Gipfel der überzogenen Erwartungen“, danach im Sturzflug hinunter in das „Tal der Enttäuschungen“, erholt sich dann wieder etwas hin zum „Pfad der Erleuchtung“, bevor es danach den Eintritt in das „Plateau der Produktivität“ gibt. Ich habe in meinen über 40 Jahren im Business noch kaum eine Technologie gesehen, die sich anders entwickelt hätte.
Tim Cook, CEO von Apple, hat im September 2022 in einem Interview mit dem niederländischen Nachrichtensender Bright deutlich gemacht, dass er nicht viel von dieser Vision von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg hält und gemeint: "Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob die durchschnittliche Person Ihnen sagen kann, was das Metaversum ist. … Und, ich glaube nicht, dass du dein ganzes Leben so leben willst".
Damit hat er wohl recht. Ich meine sogar, noch kaum einer weiß das wirklich, denn es gibt so viele unterschiedliche Vorstellungen, Ansätze und Visionen dazu. Jeder zieht in eine andere Richtung. Und das ist das Problem.
In einem Wall Street Journal Tech Interview vom Oktober 2022 mit Apples Vize-Präsidenten, Craig Federighi, dem Chef der Softwareentwicklung sowie Greg Joswiak, dem weltweiten Marketing-Boss, sagte letzterer „das Wort Metaverse sei eines, das er niemals benutzen werde“.
Hanna Henning, CIO des Siemens Konzerns, meinte im November 2022 am Tiroler Wirtschaftsforum, dass virtuelle Parallelwelten, wie man sie im Metaverse versucht zu entwickeln, in der Industrieproduktion künftig eine große Rolle spielen würden. Darin würde man sich treffen, um Produkte zu erschaffen. Dies hätte mehrere Vorteile, denn so könnten Vorentwicklungen mit minimalem Materialaufwand erfolgen und vor dessen Produktion schon auf ihre tatsächliche Praxistauglichkeit auf Herz und Nieren geprüft und eventuelle Probleme ausgemerzt werden. Die Metaverse-Technologie würde ein neues Zeitalter einleiten und in der Industrie schneller kommen als anderswo.
Nun, wie oft haben wir solche Verheißungen schon gehört? Ich habe aufgehört, sie zu zählen. Auch wenn ich die Begeisterung von Hanna Henning verstehen kann, so sehe ich darin nichts anderes als eine Zusammenführung und evolutionäre Weiterentwicklung schon bestehender Technologien, neu verpackt unter einem neuen Anstrich und einem anderen Namen.
Es geht um die Erweiterung des visuellen Interfaces, um noch mehr 3D-Visualisierung und mächtigere User-Experience (UX, MX, CX, EX) und die Nutzung weiterer menschlicher Interaktionsmöglichkeiten mit dem digitalen Equipment, also über Tastatur, Maus, Touchscreen, Monitor und Stick hinaus. Konkret, um die Kombination von Technologien wie den Digital-Twins, CAD-Simulationen, von Computerspielen (Gaming), der HoloLens, von Video-Konferenzen bzw. 3D-Video-Chat-Lösungen à la Starline von Google oder Hologramm-Projektion, Sprachdialog und -steuerung und Sound à la Alexa bzw. Siri, VR-Brillen etc.
Das ist nach meinem Verständnis lediglich eine logische Fortentwicklung, ja sogar eine Konsolidierung, aber weder ein neues Zeitalter noch eine General Purpose Technology (GPT). Etwas Sorge sollte einem bei solchen Konzepten, insbesondere für den Privat- und Konsumgebrauch, allerdings das Thema „Flucht aus der Realität in die Virtualität“ machen, so wie das Ausmaß der Spielsucht in der Gaming-Szene längst sehr bedenklich ist.
Mit der Erschaffung solcher Hypes und auf diesen Wellen zu surfen und dabei viel Geld zu machen und Firmenbewertungen hochzupushen, waren wir in der IT-Szene und der Welt der Digitalisierung schon immer spitze.
Die große Frage ist, auf welcher Seite man sitzt. Ist man Anbieter, mag es einem einen erheblichen Vorteil bringen, auf solch einen Zug mit großem Momentum aufzuspringen. Ist man auf der Seite der Anwender, schaut die Sache ggf. ganz anders aus.
Stanford-Professor Jim Collins und sein Forschungsteam stellten in einer anerkannten Analyse von langfristig extrem erfolgreichen, börsennotierten Konzernen im millionenfach verkauften Bestseller „Good to Great“ (bzw. „Der Weg zu den Besten“ – als deutsche Buch-Version) einen diesbezüglich interessanten, strategischen Schlüsselfaktor fest, der in meinen Augen bis heute den Nagel auf den Kopf trifft und auch für KMU gilt.
Höchst erfolgreiche Konzerne denken anders über Technologien und technologischen Wandel als mittelmäßige Unternehmen. Diese Top-Performer meiden technologische Modeerscheinungen und Hypes und werden dennoch zu Vorreitern bei der Anwendung sorgfältig ausgewählter Technologien. Technologie sei per se kein Impulsgenerator, sondern ein Katalysator. Um daher zu beurteilen, ob eine Technologie für sein Unternehmen als Beschleunigungsfaktor für den Geschäftserfolg dient, ist das wichtigste Kriterium die Beantwortung der Frage, ob sie zur Strategie des Unternehmens passt. Denn ein Unternehmen kann keine Technologie sinnvoll nutzen, ohne deren genaue Bedeutung für sein Kerngeschäft verstanden und geprüft zu haben. Daher sollte man tunlichst vermeiden, sich aus der Angst eventuell abgehängt zu werden, einfach blind in die neuesten „Innovationen“ hineinzustürzen.
Die Art und Weise, wie ein Unternehmen auf den technologischen Wandel reagiert, sei ein guter Indikator für dessen inneres Streben nach außerordentlichem Erfolg, im Gegensatz zu Mittelmäßigkeit. Großartige Unternehmen reagieren mit Nachdenklichkeit und Kreativität, angetrieben von dem Bestreben, unausgeschöpftes Potenzial in Ergebnisse zu verwandeln. Mittelmäßige Unternehmen hingegen reagieren zu oft aus der Angst zurückzubleiben.
Confare: Was sind aus Deiner Sicht die Megatrends (Digitalisierung, KI …), mit denen sich Entscheider heute bereits befassen sollten?
RMK: Generell stelle ich in meinen Beratungen und Coachings fest, dass viele Unternehmenslenker sich noch immer damit schwertun, die Digitalisierung in ihrer Breite und Tiefe grundsätzlich und dann erst recht in Bezug auf den möglichen Nutzen oder auch Schaden für ihr Unternehmen zu verstehen. Das ist auch nachvollziehbar, denn die meisten, sehr erfahrenen Unternehmer oder Manager, kommen nicht aus dem IT-Dunstkreis und man kann nicht alles wissen.
Trotzdem ist es für den Erfolg ein Muss, sich damit vernünftig auseinanderzusetzen. Dabei sollte das IT-Chinesisch unbedingt außen vor bleiben, denn dieses hilft gar nichts. Je simpler und fundierter die Erklärungen und Praxisbeispiele, desto besser. Professionell aufgezogen ist das mit einem Intensiv-Crash-Kurs in wenigen Tagen machbar.
Die Digitalisierung professionell für seine Zwecke anzuwenden, ist in unserer Zeit in fast keiner Branche mehr wegzudenken. Oder kurz gesagt, es nicht zu tun, wird in absehbarer Zeit ein gravierender Wettbewerbsnachteil. Diese Technologie jedoch - richtig, angemessen und sinnvoll - zu nutzen, kann zu ungeahnten Erfolgen führen.
Es gibt für Unternehmensführer aus meiner Sicht drei zentrale Themen, die aus der Vogelperspektive prinzipiell gekannt und verstanden werden sollten:
Einerseits kommen wir heutzutage im Handumdrehen an unendlich viel Wissen, und das geradezu mühelos. Wir können im Internet, im digitalen Raum, Wissen an jeder Ecke, zu jeder Tages- und Nachtzeit, in jeder möglichen und unmöglichen Lebenslage für uns rekrutieren. Derart verfügen wir gewissermaßen über das Wissen der Welt.
Aber es geht gar nicht darum, unserem Wissen noch mehr Wissen hinzuzufügen. Sondern, es geht um das wesentliche Wissen! Und erst recht, um fundiertes, korrektes Wissen, um Fakten. Und infolge, zu vermeiden, dass wir vor lauter Überangebot an Informationen den Hausverstand ausschalten oder daran verdummen.
Das Zweite ist, dass längst Algorithmen (meist KI-gestützt), die Geheimwaffen von Unternehmen sind. Derart kennen uns so manche Systeme irgendwo in der Welt besser, als es unsere Mütter oder Partner tun. Mit nur 68 „Thumbs up“ (Daumen hoch), also Likes auf z. B. Facebook, kann analysiert werden, welche Hautfarbe, sexuelle Orientierung oder politische Ausrichtung jemand hat, anhand von 70 Likes kann ein guter Algorithmus den User besser einschätzen als dessen Freunde, 150 Likes und der Algorithmus kennt sie besser als ihre Eltern und mit bereits mit 300 Likes hat der Lebenspartner gegen die Maschine keine Chance mehr, und schließlich genügen 350 Likes und die Maschine kennt den User besser als er sich selbst.
Das Grundelement der neuen digitalisierten Welt im Zeitalter von Big Data ist der Mensch als Kunde, sprich, das personalisierte Datenpaket. Dabei möchte man gar nicht herausfinden, was dieses „Paket“ denkt, sondern wie sich sein Verhalten steuern und prognostizieren lässt. Menschliches Verhalten ist umso besser prognostizierbar, je mehr es sich in Gewohnheiten bewegt, was meist der Fall ist. Deshalb sind diese das bevorzugte Objekt der Begierde der Verhaltensforschung in der Konsumgüterindustrie. Eigentlich sind es sogar meist deren Goldgruben.
Verhaltensspezialisten sind heute nicht mehr so sehr die Psychologen und Soziologen, sondern eher Statistiker, Big Data Spezialisten und Informatiker. Denn KI-Algorithmen übernehmen vermehrt die Hauptrolle. Mit digitalen Technologien werden heute weit mehr Informationen und auch deutlich schneller als je zuvor gesammelt, verarbeitet, und sodann mittels KI-Algorithmen in neues Wissen übersetzt. Dies nicht nur bezogen auf Konsumenten, sondern fast alle Geschäftsprozesse und Bereiche betreffend.
Und letztlich, als dritter Themenkreis, sollte verstanden werden, was Künstliche Intelligenz wirklich ist, denn dieser Begriff ist völlig irreführend. Von der ursprünglichen Idee der KI funktioniert an sich bis heute „nur“ das Maschinelle Lernen (ML). Insbesondere, dank des Durchbruchs im Jahr 2012 des Teams unter Federführung von Stanford-Professorin Fei-Fei Li, das Deep Learning. (Siehe ihren spannenden TED-Talk dazu).
Und deren im Ergebnis trainierte, oft extrem komplexe Algorithmen, basieren bislang zu über 95 % auf dem Verfahren des „Supervised Learning“. Punkt. Diese bieten bereits mächtige, tolle und sehr nützliche Anwendungsmöglichkeiten. Das basiert alles auf Mathematik, insbesondere auf der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Dabei finde ich für die Business-Welt die Definition der kanadischen KI-Professoren Ajay K. Agrawal, Avi Goldfarb und Joshua Gans, die auch mehrere hochinteressante Bücher dazu verfasst haben, als bislang noch die beste, nämlich:
„KI ist eine Prognose-Technologie, und zwar eine sehr preiswerte. Ob für kfm. Entscheidungen, autonomes Fahren, Medizinanalysen, Wetter, Sprachverarbeitung (NLP), Steuerung, Chatbots, Finanzentscheidungen usw. Dabei sind Prognosen als Inputs für die Entscheidungsfindungen zu verstehen, wobei diese auf Informationen basieren, die Sie haben, oft als "Daten" bezeichnet, und verwendet sie, um Informationen zu erzeugen, die Sie noch nicht haben.“
Inwieweit es damit z. B. Amazon eines Tages schafft, die Trefferquote bei Kaufempfehlungen an Kunden von dzt. nur 5 bis 10 % auf über 95 % zu steigern, um deren Konzern-Vision zu realisieren, das Geschäftsmodell von aktuell „Shopping-Then-Shipping“ auf „Shipping-Then-Shopping“ umzudrehen, bleibt dahingestellt, zeigt aber, was man mithilfe der KI beispielsweise anpeilt.
Aber all die Träumereien von einer den Menschen in seiner Intelligenz überflügelnden maschinellen Fähigkeit, einer „menschenähnlichen, starken KI“ oder gar „Superintelligenz“ sind – bislang – nur Humbug.
Der technologische Vater und Chefarchitekt der ARM-Prozessoren, Prof. Steve Furber ist u. a. auch der Chefentwickler des Human Brain Project (HBP), wo er mit seinem Team nach mehr als zehn Jahren Planungs- und Aufbauzeit Ende 2018 an der Uni Manchester und TU Dresden erstmals das neuromorphe SpiNNaker-System mit über einer Million ARM-Rechenkernen in Betrieb genommen hat. Es ist dies ein Forschungsprojekt der Europäischen Kommission, welches das gesamte Wissen über das menschliche Gehirn zusammenfassen und mittels computerbasierter Modelle und Simulationen nachbilden soll.
Steve gründete 1990 zusammen mit dem in Cambridge ansässigen Österreicher Dr. Hermann Hauser (damals CEO, nunmehr mit Amadeus Capital ein Deep-Tech Star-Investor) und Sophie Mary Wilson (Computer-Architektin) die britische ARM Ltd., heute ein Milliardenunternehmen. Dank deren energieeffizienter RISC-Architektur haben wir heute überhaupt Smartphones und Tablets. Längst werden jährlich um ein Vielfaches mehr (230 Milliarden Stück im Jahre 2022) an ARM-Prozessoren gefertigt und verbaut als von Intel.
Als Hermann und ich bei der Inbetriebnahme von SpiNNaker uns fragten, welche Gehirn-Simulationsleistung dieser spezialisierte Superrechner nun konkret haben werde und inwieweit sich diese in irgendeiner Weise exponentiell verhält, schrieb mir Steve dazu Folgendes (ins Deutsche übersetzt):
Lieber Reinhold,
das Gehirn ist recht modular aufgebaut, sodass die Zahl der Verbindungen nicht exponentiell mit der Zahl der Neuronen wächst. Tatsächlich hat sich gezeigt, dass eine Form der Rent'schen Regel für Gehirne genauso gilt, wie für digitale Schaltkreise - die Anzahl der Verdrahtungen folgt einem Potenzgesetz in Abhängigkeit von der Anzahl der Neuronen.
Eine einfachere Betrachtungsweise besteht jedoch darin, die Neuronen und/oder Synapsen zu zählen. Das menschliche Gehirn hat knapp 1011 Neuronen und 1015 Synapsen. Auf SpiNNaker können wir bis zu tausend Neuronen pro Kern modellieren, sodass eine Million Kerne 1 % der Anzahl der Neuronen im menschlichen Gehirn modellieren können, aber wir können wahrscheinlich höchstens 1012 Synapsen verarbeiten. Dies müssten aber die allereinfachsten Arten von Neuronen- und Synapsen-Modellen sein. Wahrscheinlich können wir mit einem Mausgehirnmodell umgehen, das 1.000 Mal kleiner ist als das menschliche Gehirn.
In der Praxis übersteigt ein komplettes (Echtzeit-)Modell des menschlichen Gehirns derzeit die Möglichkeiten jeder bestehenden Maschine. Es fehlen jedoch noch viele Daten und Erkenntnisse, um ein solches Modell zu erstellen, selbst wenn wir eine ausreichend leistungsfähige Maschine hätten!
Mit besten Wünschen, Steve
Fakt ist, dass bis heute noch nicht verstanden wird, wie das menschliche Gehirn überhaupt funktioniert. Deshalb schrieb Steve auch davon, dass sie erst einmal mit den allereinfachsten Arten von Neuronen- und Synapsen-Modellen arbeiten. Somit ist es nicht möglich für eine 1:1-Simulation weitestgehend einen präzisen, identen, sozusagen digitalen Zwilling (Digital-Twin) an Hardware und Software überhaupt nachzubauen. Bevor uns die Gehirnforschung nicht alle Rätsel entschlüsselt, ist dies aussichtslos, kann man sich nur behutsam herantasten.
Für mich ist eindeutig klar, unser Gehirn arbeitet jedenfalls sicher nicht digital und mathematisch. Ich denke, wir suchen sogar am falschen Ort, um unser Gehirn, unseren Verstand zu verstehen. Denn die Schöpfung, das Universum besteht lediglich aus rd. 5 % Materie, aber alles andere, der Hauptteil ist Schwingung, Geist – oder wie immer man es auch nennen mag. Für mich stellt sich das derzeit so dar, als würde jemand, der zum allerersten Mal z. B. mit der Digitalisierung zu tun hat und dieses „moderne Wunderwerk“ wissenschaftlich ergründen wollte, sich nur darauf fokussieren, alles Sichtbare, physisch Greifbare zu untersuchen. Also nur die Hardware und Infrastruktur. Ich denke, wir sind uns rasch einig, selbst wenn man hundert Jahre derart daran forscht, würde nie verstanden, wie und warum die Digitalisierung funktioniert. Denn auch Betriebssysteme, Firm- und Software und so vieles mehr an „Unsichtbarem“, tragen dazu bei, dass das Gesamtwerk „Digitalisierung“ funktioniert.
Es ist ein wenig ähnlich wie beim Thema Urknall, der nach meinem Verständnis wenig erklärt, sondern einfach nur ein hübsches Bild für die Grenzen des Erforschbaren ist. Nach dem Motto, bis zum Urknall, kurz davor, kann man mithilfe all der modernen Technologien, z. B. dem James-Webb-Weltraumteleskop (JWST) hinsehen, aber zum Urknall selbst nicht. Und schon gar nicht dahinter, nämlich, was war denn vor dem Urknall? Oder, warum fand er überhaupt statt? Oder, warum fand er so statt und nicht anders? Oder, so man dabei auch noch die Frage der Zeit sozusagen experimentell auf den Kopf stellen wollte, warum fand der Urknall gerade dann statt und nicht früher oder später?
Deshalb meine ich, benötigt man in der Wissenschaft noch ganz andere, neue Perspektiven. Dazu reicht wohl selbst die Erforschung der hoch spannenden Quantenphysik nicht aus, um das ganze Geheimnis der „Funktionsweise“ unseres Gehirns, des Denkens, der Inspiration und Intuition usw. verstehen, geschweige denn es „nachbauen“ zu können.
Schon lange vor dem Aufkommen der modernen Physik, im frühen 19. Jahrhundert, stellte Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) in seinem Werk Faust (Faust I, Vers 382 f.) die Frage nach der Beschaffenheit der grundlegenden Bausteine der Welt: „Dass ich erkenne, was die Welt, im Innersten zusammenhält“.
Bis heute sucht die Physik nach einer mathematischen Erfassung des Universums, nach der »Weltformel« und verweist dabei für dieses Bemühen gerne auf dieses Goethe-Zitat. Die Antwort durch die Wissenschaft lässt noch auf sich warten.
Die Wissenschaftler des Schweizer Blue Brain Project haben 2017 in einer Studie, ihre Erkenntnisse über das menschliche Gehirn veröffentlicht, die einen demütig erstaunen ließen. So stellten sie fest, dass unser Gehirn in sogar 11 Dimensionen denkt.
"Es ist, als ob das Gehirn auf einen Reiz reagiert, indem es einen Turm aus mehrdimensionalen Blöcken baut [und], beginnend mit Stäben (1D), dann Brettern (2D), dann Würfeln (3D) und dann komplexeren Geometrien mit 4D, 5D usw. Der Fortschritt der Aktivität durch das Gehirn ähnelt einer mehrdimensionalen Sandburg, die sich aus dem Sand materialisiert und dann zerfällt", sagt deren Teammitglied, der Mathematiker Ran Levi von der Aberdeen University in Schottland. „Wir haben eine Welt gefunden, die wir uns nie vorgestellt hatten. Es gibt zig Millionen dieser Objekte, sogar in einem kleinen Hirnfleck, bis zu sieben Dimensionen. In einigen Netzwerken haben wir sogar Strukturen mit bis zu 11 Dimensionen gefunden", sagte der leitende Forscher, Neurowissenschaftler Henry Markram vom Schweizer EPFL-Institut.
Der heutige Computer kann aber nur binär, digital, also mit 0 und 1, rechnen und verbraucht dazu – im Verhältnis zum Gehirn – gigantisch viel Energie, sprich Strom. Der Quantencomputer arbeitet übrigens auch nicht viel Gehirn-konformer.
Das Training großer ML-Modelle benötigt extrem leistungsfähige Rechner, die viele MWh fressen. Unser Gehirn hingegen verbraucht nur rund 20 W/h und schafft dabei mit seinen rd. 90 Mrd. Neuronen und rd. 500 Billiarden Synapsen noch viel komplexere Überlegungen. Davon ist die KI noch Lichtjahre entfernt, so sie dies überhaupt jemals erreicht.
Und es geht gar nicht nur um die Leistungsfähigkeit beim Rechnen, nichts anderes macht die KI, denn unser Gehirn kann noch immens viel mehr.
Dass uns Menschen die Computer bei der einen oder anderen Aufgabe überlegen sind, hat nichts mit Intelligenz zu tun. Auch mechanische Maschinen sind uns seit der industriellen Revolution bezüglich unserer Muskelkraft weit überlegen, davor waren es schon Tiere, wie Pferde. Und das stört uns auch nicht, im Gegenteil, es hilft uns. Hinsichtlich großer Rechenaufgaben, mit großen Datenmengen, war uns schon 1979 das erste Spreadsheet, die erste Tabellenkalkulation, ein Vorgänger von Excel, Visicalc von Dan Bricklin am Apple II, haushoch überlegen. Aber auch das hatte und hat bis heute gar nichts mit Intelligenz zu tun. Es handelt sich, gleich wie bei der KI, einfach nur um ein komplexes, maschinelles Rechnen.
Ich denke, diese 3 Themenkreise fundiert zu verstehen, ist ein Schlüssel für alle Business- und IT-Entscheider, damit man sich nicht verrückt macht.
Klar könnten wir nun auch noch in mögliche Zukunftstechnologien der Computer einen Einblick nehmen, wie in die Quantencomputer, die Lichtcomputer-Technologie oder das DNA-Computing oder warum die Nanometer-Angabe für Chips längst zur Mogelpackung wurde. Das ist zwar alles sehr spannend, aber momentan für Business-Anwender auch nicht mehr und würde hier wohl zu weit führen.
Ein Dauerbrenner ist natürlich die Frage der Cybersicherheit. Ich denke, damit kann man sich gar nicht genug auseinandersetzen, da jeden Tag neue Tricks erdacht und Lücken entdeckt und ausgenützt werden. Oft, wie bekannt, mit verheerenden Folgen, wenn man sich nicht adäquat schützt.
Aber auch die KI-Thematik, konkret das Maschinelle Lernen (ML), ist längst in der Hype-Cycle-Phase „Plateau der Produktivität“ angekommen und macht viel Sinn.
Ansonsten, für eher eingeweihte IT-Profis, schadet ein Blick in Gartner Inc.'s alljährliches Ranking der Emerging Technologies nicht. Andere Analysten bieten Ähnliches. Einfach um am Laufenden zu sein, die Buzzwörter am Radar zu haben und zu wissen, was grob dahintersteckt. Das kann sich jeder selbst dort frei ansehen bzw. downloaden. Sich damit zu beschäftigen heißt aber nicht, dort überall gleich ernsthaft einzusteigen, denn auch Gartner und die anderen haben keine Kristallkugel und daher fallen im nächsten Jahr viele dieser Themen wieder raus und kommen andere, neue hinzu.
Im Gartner Bericht über Emerging Technologies 2022 werden z. B. 3 Bereiche und darin zahlreichen Topics aufgezeigt.
Confare: Digitalisierung und IT haben enorme Auswirkungen auf die Gesellschaft. Gleichzeitig ist der Zugang zu Internet und Technologie auf der Welt nicht gerecht verteilt – wie viel gesellschaftliche Sprengkraft siehst Du darin?
RMK: Eine faire, ausgewogene Entwicklung gab es wohl seit der Zivilisation nie auf der Welt. Daran kann man nur versuchen zu arbeiten, aber wie wir wissen, ziehen diesbezügliche viele Länder und Völker, die das an sich leisten könnten, nicht wirklich vorbildlich mit. Was allerdings stückweise hilft, um die Reichweite des Internets für möglichst viele Menschen abzudecken, sind immer ausgereiftere und günstigere Technologien. Da ist schon viel passiert und wird es noch.
Aber, wie ich in meinen Artikeln für Tages- und Wirtschaftszeitungen, welche auch auf meiner Website nachzulesen sind, schon ausgeführt habe, sehe ich derzeit viel mehr gesellschaftliche Sprengkraft in der Frage, wie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ausgeht. Denn dieser ist der Versuch eines Despoten, die Weltordnung umzuwerfen und wieder das uralte System und Recht des Stärkeren zu verankern und dabei den Schwächeren schlicht und einfach auszulöschen. Wenn dies gelingen würde, dann ist allerdings die Weltordnung so in ihren Grundfesten erschüttert, dass kein Land der Welt mehr sicher ist. Vor allem dann nicht, wenn es sich um ein kleineres Land handelt. Dann stellt sich auch die Frage nach einem gerecht verteilten Internetzugang nicht mehr wirklich.
Aber auch die Konflikte insbesondere mit China und den G-7-Staaten, der westlichen Welt, im Ringen um die Oberhand des politischen Systems in der Welt, spielen dabei ebenso eine äußerst gewichtige Rolle. Speziell, wenn manche Länder wie Russland und China schon damit drohen, Satelliten abzuschießen, die deren Bevölkerung einen freien Zugang zum Internet ermöglichen würden, weil sie damit keinen Hebel mehr für eine Zensur und deren autokratische oder totalitäre Kontrolle zum Machterhalt hätten.
Dennoch hoffe ich, dass die sukzessive Internet-Coverage auch in ärmeren oder autokratisch geführten Ländern sich á la long nicht aufhalten lässt.
Confare: Was können CIOs und CDOs für eine bessere Zukunft beitragen?
RMK: Auf der Höhe der Zeit und entsprechend kompetent zu sein und sich trotzdem oder erst recht nicht von Hypes ins Bockshorn jagen zu lassen, ist, denke ich, das Wichtigste diese digitalen Kapitäne betreffend. Denn letztlich sind sie es, die das Top-Management beraten oder sogar Teil davon sind, aber auch das ganze Unternehmen im Hinblick auf deren Digitalisierung servicieren und voranbringen.
Da müssen vorausschauende Entscheidungen möglichst treffsicher sitzen. Digitalisierung ist heute eine immens wichtige Funktion in fast jedem Unternehmen. Wäre Peter F. Drucker noch am Leben, hätte er vermutlich die Digitalisierung als die dritte wichtige Funktion eines Unternehmens ergänzt.