Europas Unkultur des Scheiterns
Mein Artikel wurde in der Times of Malta (ToM) sowie in der SWZ - (Südtiroler Wirtschaftszeitung) veröffentlicht. Der Link zum Artikel in der „ToM" bzw. „SWZ", die PDF/Printausgabe ist jeweils hier und hier zu finden.
Wer wagt, gewinnt. Meistens. Aber man kann auch verlieren. Aus Siegen lernt man wenig - wenn überhaupt. Aber aus dem Scheitern lernt man immer, wenn man sich nicht in die Opferrolle flüchtet.
Letztlich kann ein Misserfolg, das Scheitern eine Lektion sein, die den späteren Erfolg oder Sieg umso besser, sicherer, größer und strahlender macht. Und mit etwas Demut gewinnt man sogar an Weisheit.
Sind Sie schon einmal gescheitert?
Scheitern ist menschlich. Es kann jeden treffen. Aber das ändert nichts an seiner Wirkung: Ein Misserfolg ist unangenehm, manchmal dramatisch, sogar peinlich und kann sich wie ein schmerzlicher Verlust anfühlen. Aber ein Scheitern, ein Fehler, kann auch der Beginn vieler neuer Chancen, Herausforderungen, neuer Optionen und Möglichkeiten sein.
Das Einzige, was ein Scheitern zu einer dauerhaften Belastung macht, ist, sich in eine Opferrolle zu flüchten und nichts daraus zu lernen oder zu machen. Auch die Natur macht Fehler, passt sich an oder verhält sich manchmal suboptimal. Aber wie immer ist die Natur unser bester Lehrmeister, denn wenn sie an etwas scheitert, lernt sie daraus und verbessert sich. Das nennt man Evolution.
Auch Unternehmen scheitern – Dienstleistungen, Produkte und Unternehmer durchlaufen einen Zyklus von Höhen und Tiefen. Deshalb benötigen wir evolutionäre Unternehmerinnen, Unternehmer und Unternehmen.
Viele EU-Länder praktizieren eine Unkultur des Scheiterns
Anders als beispielsweise in den USA fehlt uns in Europa eine Kultur des offenen, positiven und modernen Umgangs mit dem Scheitern. In vielen Ländern ist unternehmerisches Scheitern ein Tabu. In Europa stigmatisieren und diskriminieren wir gescheiterte Unternehmer, stellen sie als Verlierer dar, frei nach dem Motto: „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen“. Zudem verwehren wir ihnen oft auch faktisch eine schnelle zweite Chance für einen unbelasteten Neuanfang.
Seit Jahrzehnten sinkt die durchschnittliche Lebensdauer von Unternehmen weltweit kontinuierlich, und auch die Zahl der Unternehmensgründungen im Vollerwerb befindet sich auf einem neuen Tiefpunkt.
In der EU liegt die Sterberate (Death Rate) von Unternehmen nach den von Eurostat veröffentlichten „Regional Yearbooks“ im Durchschnitt bei 8 bis 10 % pro Jahr, bezogen auf die Grundgesamtheit der aktiven Unternehmen. Das bedeutet, dass die durchschnittliche Lebensdauer von Unternehmen mit 9 bis 11 Jahren relativ kurz geworden ist.
Laut dem Eurostat-Bericht „Key figures on European business - 2022 edition“ waren im Jahr 2019 die überwiegende Mehrheit der insgesamt 23,2 Millionen Unternehmen (ohne Finanzsektor) in den EU- und EFTA-Mitgliedstaaten kleine Unternehmen. Konkret haben 98,9 % der Unternehmen weniger als 50 Beschäftigte und lediglich 0,9 % sind mittlere Unternehmen mit bis zu 250 Mitarbeitern. Bloß 0,2 % sind Großunternehmen und Konzerne. Unsere Unternehmenslandschaft besteht somit fast komplett, zu sagenhaften 99,8 %, aus Kleinstunternehmen und KMU, welche 64,4 % der 131,5 Millionen an Arbeitnehmer beschäftigen und mit 52,5 % die Mehrheit zur Gesamtwertschöpfung beitragen. Diese Struktur hat an sich viele Vorteile für eine Robustheit.
Aber bereits 20 % der neu gegründeten Unternehmen überleben laut Eurostat-Bericht das erste Jahr nicht. Und die Fünf-Jahres-Überlebensrate für Unternehmen, welche z. B. 2014 gegründet wurden und 2019 noch aktiv waren, lag bei nur mehr 45 %. Mit anderen Worten: 55 % aller neu gegründeten Unternehmen aus der Kohorte 2014 überlebten keine 5 Jahre.
Und wenn wir uns die Überlebensrate von Start-ups ansehen, das sind jene Neugründungen mit erheblichem Innovations- und signifikantem Wachstumscharakter, so zeigt sich ein alarmierender Anteil von 80 bis 90 %, der innerhalb von 5 Jahren scheitern. Erst recht, wenn wir uns auf die Digital- und Hightech-Szene fokussieren, welche dafür mit Abstand am anfälligsten ist.
Das Traurige daran ist, dass über zwei Drittel dieser gescheiterten Unternehmer infolge so gut wie oder tatsächlich bankrott und derart traumatisiert und gebrandmarkt sind, dass sie in ihrem ganz Leben keinen weiteren Versuch mehr wagen. Das hat fatale Folgen für unsere Volkswirtschaft und unsere Unternehmenskultur.
Scheitern als wichtiger Lehrmeister?
Angehende Unternehmerinnen und Unternehmer hören und lesen immer wieder, dass das Scheitern ein wichtiger Lehrmeister sei. Das stimmt, ist aber ein schwacher Trost, denn niemand gründet und betreibt ein Unternehmen und riskiert damit seine wirtschaftliche Existenz, nur um diese Lektion zu lernen. Schon gar nicht, wenn der ohnehin hohe Preis dafür auch noch mit gesellschaftlicher Intoleranz und Stigmatisierung verbunden ist.
Wie die Unternehmerzeitung WirtschaftsKurier berichtete, schaffen es laut Creditreform in Deutschland weniger als 2 % aller Unternehmen, das 100-jährige Firmenjubiläum zu erreichen. Der Buchautor und McKinsey-Partner Claudio Feser hat ermittelt, dass die Hälfte der börsennotierten Unternehmen bereits innerhalb eines Jahrzehnts verschwindet, nur jedes siebte Unternehmen (ca. 14 %) das 30. und nur jedes zwanzigste (ca. 5 %) das 50. Bestandsjahr erreicht.
Die Studie „The Mortality of Companies“ des Santa Fe Institute an 25.000 US-Unternehmen kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie die deutsche Universität Rostock: Ob man Bananen, Flugzeuge oder was auch immer herstellt oder verkauft, die Sterblichkeitsrate von Unternehmen entwickelt sich branchenübergreifend ähnlich.
Wir sollten uns nicht wundern, wenn wir hinterherhinken
Angesichts unserer Unkultur des Scheiterns sollte es uns nicht überraschen, dass von den 9 globalen digitalen Giganten – den »Digital Dragons« – sechs aus den USA (Google, Amazon, Apple, IBM, Microsoft und Meta/Facebook) und drei aus China (Baidu, Alibaba und Tencent) kommen. Kein einziger davon ist in Europa entstanden.
Aus Siegen lernt man wenig. Aber aus dem Scheitern lernt man immer, wenn man sich nicht in eine Opferrolle begibt. Am Ende kann ein Fehlschlag, ein Misserfolg, ein Scheitern sogar zu einer sehr großen Lektion werden, die den späteren Erfolg umso besser, sicherer, größer und strahlender macht. Mit ein wenig Demut gewinnt man sogar an Weisheit.
Zu scheitern, zu verlieren, einen großen Fehler zu machen, einen bedeutenden Irrtum zu begehen, ist im Leben unvermeidlich. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Der Trick ist aber, dies nicht zur Gewohnheit, zur Scham oder gar zur Depression werden zu lassen, sondern dankbar aus der Erfahrung zu lernen und immer das Beste daraus zu machen.
Warum ist das Silicon Valley so erfolgreich und berühmt? Was ist ihr Erfolgsgeheimnis?
Es sind deren Papierkörbe!
Der Punkt in den Entwicklungsabteilungen und Start-ups im Silicon Valley ist, dass dort ohne Angst vor Fehlschlägen frei gedacht und entwickelt werden darf, ja sogar werden soll. Dort weiß man, dass 99 % der Ideen, Entwicklungen oder Geschäftsmodelle wieder verworfen werden müssen, weil sie nicht erfolgreich umsetzbar und daher für den Papierkorb gedacht sind. Aber 1 % schafft es, wirklich substanziell erfolgreich zu sein.
Das ist wie bei jedem Künstler, der in der Regel 99 Skizzen für den Papierkorb produziert, bis ein Bild oder Design herauskommt, das er selbst als für die Öffentlichkeit geeignet anerkennt.
Dieses „Trial-and-Error“ – Ausprobieren und wieder Verwerfen – wird im Silicon Valley „Pivoting“ genannt und von Investoren sogar begrüßt und gefördert. Für Europa hingegen ist dieses Konzept mehr als befremdlich.
Ein Unternehmer trifft stündlich, täglich, viele Entscheidungen und geht Risiken ein. Aber niemand weiß im Voraus, wie sich die Dinge entwickeln werden, die wir geplant und angenommen haben, selbst wenn wir die besten Daten, Erfahrungen und Berater zur Verfügung haben. Die einzige Konstante ist die Veränderung, und niemand kennt die Zukunft. Deshalb changieren wir zwischen Erfolg und Misserfolg. Das Risiko des Fehlschlags, des Scheiterns ist inhärent, immer, überall und in allem.
Die einzige Alternative zum Fehlermachen wäre, keine Fehler zu machen. Aber keine Fehler zu machen ist nur möglich, wenn man nichts unternimmt, nichts versucht, keine Entscheidungen trifft, nichts tut. Das aber wäre kein Unternehmertum. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
Aus demokratiepolitischer Sicht ist eine Kultur, die Scheitern nicht duldet und zulässt, die Misserfolg und Scheitern sogar verdammt, mehr als fragwürdig. Wie der berühmte österreichisch-britische Philosoph Sir Karl Popper (1902–1994) in einem Interview mit der deutschen Handelsblatt-Gruppe zu Recht postulierte: „Wir können vom Scheitern nur dann profitieren, wenn unsere Gesellschaft das Scheitern nicht sanktioniert“.
Wir sind zu risikoscheu
In Europa gibt es kaum eine Kultur des Scheiterns, wie zahlreiche Studien belegen. Unternehmerisches Scheitern wird nachweislich noch kritischer gesehen als Scheitern im Allgemeinen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in Umfragen viele Menschen der Meinung sind, dass der Schritt in die Selbstständigkeit, ins Unternehmertum, wegen des damit verbundenen Risikos nicht empfehlenswert sei. Mit anderen Worten: Unsere Bevölkerung scheint überwiegend risikoscheu zu sein und wenig Toleranz für das unvermeidliche unternehmerische Scheitern zu haben.
Laut einer 2019 in Deutschland durchgeführten Studie von Marvin Faradjollahi, Associate bei PwC, veröffentlicht in seinem Buch „Entrepreneurship und Scheitern aus psychologischer Sicht“, sind zwar mittlerweile 75 % der Bevölkerung der Meinung, dass gescheiterte Unternehmer eine zweite Chance verdienen. Bei der anschließenden Frage, ob sie mit einem gescheiterten Unternehmer eine Geschäftsbeziehung eingehen würden, gaben jedoch über 40 % davon an, dass sie die Produkte eines einmal gescheiterten Unternehmers nur ungern kaufen oder in ihn investieren würden.
Dabei sind viele der heute sehr berühmten US-Unternehmer mehrfach gescheitert, bevor sie sehr erfolgreich wurden. So z. B. feuerte ein Zeitungsredakteur Walt Disney, weil er keine Fantasie habe, während Henry Ford zwei gescheiterte Automobilunternehmen gründete, bevor er mit der Ford Motor Company einen immens erfolgreichen Durchbruch schaffte.
Als Steve Jobs bei Apple gefeuert wurde, sagte er: „Die Schwere des Erfolgs wurde durch die Leichtigkeit ersetzt, wieder ein Anfänger zu sein“. Und wir alle wissen, wie die Geschichte weiterging. Apple Inc. ist seit vielen Jahren das weltweit wertvollste Unternehmen.
Max Levchins Online-Bezahldienst PayPal war sein fünfter Versuch, ein erfolgreiches Unternehmen zu gründen. Bevor Reid Hoffman LinkedIn mitbegründete und in große Namen wie PayPal und Airbnb investierte, gründete andere Start-ups wie SocialNet und scheiterte. Und Evan Williams, Mitbegründer von Twitter, scheiterte kläglich mit seiner ersten Podcasting-Plattform Odeo.
Was aber passiert, wenn man als Unternehmer nicht nur gelegentlich scheitert, sondern im Extremfall pleitegeht? In den USA sieht man das einfach als Pech an, dann hat man dummerweise einen sauren Apfel aus der Kiste erwischt, aber der nächste, der wird dann wieder reif sein. Dort gilt die Devise: „Hingefallen? Macht nichts! Aufstehen, Krone richten und weitermachen“.
Dort kann der gescheiterte Unternehmer innerhalb weniger Monate mit seiner zweiten oder nächsten Chance wieder durchstarten. Er wird sogar ermutigt, als nun erfahrenerer und damit wertvollerer Unternehmer noch einmal von vorn anzufangen. Viele US-Investoren investieren gerne in einen solchen 360° erfahrenen Unternehmer, weil sie davon ausgehen, dass aufgrund dieser Lernkurve die Wahrscheinlichkeit eines erneuten derartigen Fehlschlags gering ist.
Wer dagegen in den meisten EU-Ländern in ein Privatinsolvenzverfahren schlittert, bleibt jahrelang in der Klemme und wird erst nach drei, fünf oder gar sieben Jahren daraus entlassen, um gegebenenfalls neu durchzustarten. In einigen EU-Ländern gibt es diese Möglichkeit noch nicht einmal.
Es sollte uns daher nicht überraschen, dass der Appetit Unternehmen zu gründen verhalten ist. Der Global Entrepreneurship Monitor (GEM) 2021/2022 zeigt nach wie vor ein bedenkliches Bild, was die unternehmerische Angst vor dem Scheitern betrifft. Der Anteil potenzieller Gründer im Alter von 18 bis 64 Jahren, die zwar gute Geschäftsmöglichkeiten für sich sehen, sich aber aus Angst vor dem Scheitern keine Unternehmensgründung zutrauen, ist einfach zu hoch. Ein Auszug ihrer Anteile aus dem GEM:
Schweiz 30,4 %, Lettland 37,3 %, Norwegen 38,3 %, Niederlande 36,8 %, Deutschland 37,9 %, Slowenien 43,0 %, Polen 43,5 %, Schweden 43,6 %, Frankreich 44,1 %, Finnland 44,5 %, Italien 45,3 %, Slowakei 46,0 %, Irland 49,9 %, Zypern 50,1 %, Spanien 51 %, Griechenland 51,5 %, Vereinigtes Königreich 51,8 %.
Misserfolge sind wie Blätter, die zu Boden fallen
Der berühmte amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison (1847–1931) sagte nach 1.000 gescheiterten Versuchen, seine Glühbirne zur Marktreife zu bringen: „Ich bin nicht gescheitert. Ich kenne nur jetzt 1.000 Wege, wie man keine Glühbirne bauen kann“. Er benötigte 3.000 Versuche, bis er zum Ziel kam. Für die so wichtige Erfindung zur Bekämpfung von Hungersnöten durch Kunstdünger benötigten der Nobelpreisträger Fritz Haber (1868–1934) und sein Chemiker-Kollege Carl Bosch (1874–1940) mit ihrem Team bei der BASF Anfang des 20. Jahrhunderts rund 20.000 Versuche, bis die industrielle Synthese von Ammoniak gelang.
Man stelle sich vor, sie alle hätten vorher aufgegeben oder man hätte ihnen gesagt: „Euer erster Versuch muss klappen, denn wir dulden kein Scheitern". Wo wären wir dann heute?
Es gibt dazu ein wunderbares Zitat von Samuel Smiles (1812–1904), dem britischen Denker, politischen Reformer, Arzt, Zeitungsverleger und Eisenbahnmanager:
„Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass Menschen durch Erfolg erfolgreich sind; sie sind viel häufiger durch Misserfolge erfolgreich. Wahrnehmungen, Studien, Ratschläge und Beispiele hätten sie niemals so gut lehren können, wie es Misserfolge getan haben.“
Steve Jobs, Vater des Erfolgs von Apple Inc., hat in seiner Biografie (Kapitel 41, Vermächtnis) sehr weise festgestellt: „Eine echte Firma aufzubauen, die auch noch in ein oder zwei Generationen für etwas steht, ist die härteste Arbeit im Geschäftsleben“.
Gegen Scheitern, Fehlschläge und Misserfolge ist nichts einzuwenden, solange es nicht durch illegale Transaktionen verursacht wird. Misserfolge sind wie Blätter, die zu Boden fallen, um im Kreislauf wieder wertvollen Humus für die Zukunft zu bilden. Aber wenn man den Bäumen nicht erlaubt, Blätter zu haben, weil sie abfallen können, dann hat man bald keine fruchtbare Erde mehr. Und dann wird es in Zukunft keine Bäume des Erfolgs mehr geben. Oder wie es in der Bibel heißt: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“
Deshalb sollten wir alle offen sein für mehr Toleranz, für eine moderne Kultur des Scheiterns in Europa. Getreu meinem Motto: „Erfolg zu haben, ist nicht die große Kunst. Die große Kunst ist, erfolgreich zu bleiben! Denn nachhaltiger Erfolg funktioniert nach ganz eigenen Spielregeln und Mechanismen. Memento mori!“